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Filmfestival Cinéma du Réel

Untergang und Utopien: Was hinter den Bildern steckt

 Siegfried Forster

Artikel vom 13.03.2009 Letzte Aktualisierung am 16.03.2009 08:43 TU

Untergangsstimmung bei "California Company Town"© Cinéma du réel
Das größte Dokumentarfilm-Festival Frankreichs und eines der größten in Europa spielt sich wie jedes Jahr im Pariser Centre Pompidou ab. Beim „Cinéma du Réel“ dient diesmal ein einstürzendes Hochhaus als Leitmotiv. Sinnbild für Zerstörung und Erneuerung, Anklang an die überall wütende Finanz-, Wirtschafts- und Sinn-Krise. Filmemacher aus aller Welt präsentieren ihre Streifen über kleine und große Ereignisse in aller Welt.

Cinéma du Réel

13/03/2009

Vergangenheit, die unter die Haut geht

Auf nach Guadeloupe, auf nach Gossier! Manchmal werden Dokumentarfilme ein Leben lang mühselig vorbereitet und sind am Ende dann doch schneller als jede aktuelle Berichterstattung. Zum viertel Mal ist Regisseurin Sylvaine Dampierre beim Festival „Cinéma du réel“ dabei. Diesmal machte sie sich auf die Suche nach ihren versklavten Vorfahren auf der französischen Übersee-Insel Guadeloupe. Längst bevor der 44tägige Generalstreik die sozialen Probleme der Insel in den Mittelpunkt rückte. „Le Pays à l’envers“ ist eine akribische und ebenso sentimentale wie politische Reise in eine schaurige Vergangenheit, die buchstäblich unter die Haut geht. Epidermisch ist denn auch eines der Schlüsselwörter des Films. Sylvaine Dampierre:

„Epidermisch ist der Bezug zur Geschichte, zur Erinnerung, die schmerzvolle Gründung dieses Landes, das in jeglicher Hinsicht dünnhäutig ist und dem vieles unter die Haut geht. Denn diese Geschichte hat eine Farbe und diese Farbe ist die Hautfarbe der Menschen. Aber auch, weil diese Geschichte noch sehr lebendig ist, wie wir mit der wunderbaren Streikbewegung gesehen haben, die in der schmerzhaften Vergangenheit dieser Kolonie wurzelte, einer ehemaligen Sklaveninsel. Einer französischen Insel mit dieser Geschichte: Sklaverei und Kolonisierung.“

Filmemacher beobachten die Welt, besser als alle anderen

Explosive Themen, sensible Porträts, engagierte Filmemacher, die gar nicht erst versuchen, der Einschaltquote Rechnung zu tragen, das sind die Stärken des Cinéma du Réel, eines der größten Dokumentarfilm-Festivals Europas, das größte im ethnologischen und soziologischen Bereich. Hier werden keine Filme gekauft oder verkauft, sondern es präsentiert sich auch 31 Jahre nach seiner Gründung noch als Festival für Cinéasten und Kinofreunde – und als Barometer für Zukunftstrends. Javier Packer-Comyn ist dieses Jahr zum ersten Mal künstlerischer Leiter des Festivals:

„Die Filme haben sich aufgedrängt. Die Filme, die mich am meisten beeindruckt haben, wo ich das Gefühl hatte, dass es wichtig ist sie zu zeigen, das waren Filme mit einer Fragestellung: die Filmemacher beobachten die Welt, besser als alle anderen. Wir sind täglich einer Bilderflut ausgesetzt und stellen fest, dass diese Flut ein Scheitern darstellt. Diese Bilder spiegeln das Scheitern des Systems wider. Wir haben ein System, das zusammenbricht und wir haben ein Informations-System namens Fernsehen, das auch am Scheitern ist, weil es uns nicht erlaubt, uns zu emanzipieren, die Welt besser zu verstehen. Viele Filmemacher haben diese Entwicklung der Welt vorweggenommen. Sie haben uns nicht die Krise vorhergesagt, das sind keine Wahrsager, aber in ihren Filmen steckt die Einsicht, dass das passieren wird. Dass wir in einer Sackgasse steckten.“

Untergründe und Abgründe des amerikanischen Traums

Manche Stimmen kommen einem bekannt vor. „Wir leben in einem wirklich wunderbaren Land“ – das formulierte in den 50er Jahren ein gewisser Ronald Reagan, damals noch nicht US-Präsident und oberster Verfechter des Kapitalismus, sondern einfacher Schauspieler – in einem von der Richfield Oil Company gesponserten Werbefilm. Ein Auszug aus „California Company Town“. Regisseurin Lee Anne Schmitt erforscht in diesem Horrorfilm die Untergründe und Abgründe des amerikanischen Traums.

 „Sie zeigt  von der US-Wirtschaft verlassene Orte. Sie filmt bestimmte Gegenden unweit des Silicon Valley, so wie man einst die verlassenen Städte des Far West gefilmt hat. Wir sehen Geisterstädte, einstmals extrem florierende Industrie-Städte, die heute Phantom-Städte geworden sind.“

Heutige Wahrheiten früherer Zeiten

Ein Sinnbild für die vielleicht zu erwartenden Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise? Aljona Polunina hinterfragt in „The Revolution That Wasn’t“ die russische Identität anhand extremistischer Stalinisten. Die seit 30 Jahren in Amsterdam lebende Rosemarie Blank setzt 20 Jahre alte Filmfragmente aus der Amsterdamer Hausbesetzer-Szene neu zusammen. Eine Art Puzzle-Spiel, das mit neu gescanntem und digitalisiertem 16-Millimeter-Film-Archiv der damaligen Epoche heutige Wahrheiten zu entlocken sucht. Im Mittelpunkt von „Job und der holländerfreie Staat“ steht ein Mann, der stets auf Jutesäcken schlief und stundenlang Holzspäne wie eine Wahrsager-Kugel betrachtete.

Rosemarie Blank:

Es war sehr schwierig für mich, überhaupt mit ihm in Kontakt zu kommen, weil er die Deutschen nicht mochte, meinen Akzent mochte er nicht, das ist aber dann doch gelungen mit einigen Leuten und das interessante war, dass dieser Mann  - das war eine richtige Strasse – die wurde geräumt, in der Nacht vom 17. bis zum 18. Juni 1988. Danach blieb er in den Ruinen, die Bauarbeiter tolerierten ihn. Also er war eigentlich wie ein Heiliger an diesem Ort. Sehr merkwürdig. Später zog er in eine selbstgebaute Hütte. Und wir – zusammen mit anderen Leuten – haben einfach nur beobachtet, was er da machte. Und ich versuchte, dahinter zu kommen, was eigentlich die Logik seiner Gedanken war. IN meinen Augen war das der authentischste Künstler, würde ich sagen. In dem Sinne, weil er keine Interessen hatte an Erfolg, an Geld, offenbar in diesen Holzspänen und Steinen etwas sah, was andere Menschen nicht sahen.“

Mich einer bestimmten Wahrheit so weit wie möglich nähern

In „Kreatives Chaos – Runde Eins“ schildert Filmemacher Hassan Zbib die Geschichte seiner Mutter im Libanon-Krieg zwischen Hisbollah und Israel im Jahr 2006. Sie war die einzige der Familie und eine der ganz wenigen 10.000 Dorf-Bewohner, die Haus und Garten während des 33-Tage-Kriegs nicht verlassen wollten. Das Mütterchen mit Kopftuch erzählt, wie Raketen über ihr Haus flogen und wie sie jeden Tag aufs Neue ihren von den Bombardierungen verschmutzten Balkon putzte. Hassan Zbib:

M354-40

Mit meinem Dokumentarfilm habe ich versucht – ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist – mich einer bestimmten Wahrheit so weit wie möglich zu nähern. Einer gewissen Emotion, ein Luxus, der im Fernsehen nicht möglich ist, denn es fehlt die Zeit, um die Dinge vorzubereiten, Orte ausfindig zu machen, Leute zu treffen, diese zu respektieren, darauf zu warten, bis sie von allein bereit sind, sie nicht dazu zu zwingen, zu manipulieren. Der Dokumentarfilm hat theoretisch dieses Potential. Das habe ich in meinem Film versucht.

Man kann an die heutige Welt denken, die zerstört wird und untergeht, aber man kann sich auch vorstellen, was hinter den Bildern steckt. Ein Gebäude wird zerstört und macht Platz für einen Neubau. Diese Rekonstruktion muss man unterstreichen als Hoffnung für einen Wandel dieser Welt, die vor unseren Augen zusammenbricht.“

„Was übrig bleibt“

„Was übrig bleibt“ heißt sinnigerweise das Werk der deutschen Filmemacher Fabian Daub und Andreas Gräfenstein. Sie erzählen von den polnischen Einwohnern im niederschlesischen Waldenburg, wie diese die vor 20 Jahren stillgelegten Kohleminen illegal weiter betreiben, damit Gefängnis riskieren, ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, aber ihren Stolz und ihre Identität bewahren. Wie alle Filme deutscher Regisseure im internationalen Wettbewerb des Cinéma du réel spielt auch der Streifen der jungen Sabrina Wulff im Ausland. „Redomption“ bringt uns die inneren Abgründe und Beweggründe von Deserteuren der US-Armee näher.

„Das hat einen ganz persönlichen Hintergrund. Ich habe 1998 als ich in New York war, einen US-Deserteur aus dem ersten bzw. zweiten Irak-Krieg kennen gelernt und das hat mich einfach nicht losgelassen. Fünf Jahre später gab es wieder einen Krieg und deshalb ist dieses Thema entstanden. Kriege wird es immer wieder geben, Kriege gab es, das ist einfach nur ein Beitrag, mehr kann es nicht sein. Wenn es manche Menschen dazu bewegt, vielleicht nachzudenken und sich vielleicht auch nicht sofort für die Armee zu entscheiden, wäre das sehr schön.“

Hoffnung auf einen Ausweg

Kurzum, das Festival „Cinéma du réel“ will es nicht bei der Wirtschafts- und Sinnkrise belassen, sondern wagt die Utopie, bekräftigt Festival-Leiter Javier Packer-Comyn:

„Ja, es gibt Anzeichen einer Utopie in bestimmten Filmen. Für mich war es sehr wichtig, keine Filme auszuwählen, die nur die Krise und die Misere zeigen. Ich habe optimistische, ermutigende Filme entdeckt. Die Filmemacher zeigen Menschen, die aufrecht stehen, Menschen mit Rückgrat, die Hoffnung geben, Hoffnung, dass sie einen Ausweg finden werden.“

www.cinereel.org - Das Dokumentarfilm-Festival „Cinéma du Réel“ läuft noch bis 17. März im Pariser Centre Pompidou.