Suche

/ languages

Choisir langue
 

Europaglosse vom 25. November 2009

Europa vor 70 Jahren

 Jaroslav Sonka

Artikel vom 24.11.2009 Letzte Aktualisierung am 24.11.2009 16:05 TU

Die Glosse vom 25. November 2009

24/11/2009 Jaroslav Sonka

Es ist eine böse Testfrage: Wo hat es 1939 eine europäische Integration gegeben? Es war doch das Jahr des Hitler-Stalin-Paktes, schon im Frühjahr entstand das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren, und dann schließlich wurde auch Polen überfallen – vom Westen und vom Osten. Integration kann man hinter diesen Ereignissen nicht sehen. Es gab sie aber doch.

Am 17. November wurden nach Demonstrationen der Studenten in Prag an die 1200 tschechische Studenten in Sachsenhausen eingeliefert – nach den sudetendeutschen Antifaschisten die ersten ausländischen Häftlinge. Und eine Woche später kamen Professoren polnischer Hochschulen dazu – eine Aktion, die Polen zu einer Sklavennation machen sollte. Bis 500 zählen, kaum lesen, gehorsam gegenüber den Deutschen sein – das war das Wunschprofil des polnischen Nachbarn in den Augen der Nationalsozialisten. In Sachsenhausen passierte jedoch das Gegenteil. Die verfolgten Menschen, Polen, Tschechen, aber vor allem auch Deutsche, haben angefangen zu kommunizieren, sie haben einander geholfen, haben dann schließlich Freundschaften geschlossen. Später kamen Niederländer, Belgier, Franzosen und andere dazu, und in der Lagergemeinschaft entstand – gerade und bewusst in einer Trotzhaltung gegen den dumpfen Nationalismus und Rassismus – ein kleines Europa.

Auch nach dem Krieg hielt diese Verbindung, und zwar auch über den Eisernen Vorhang hinweg. Auch die deutschen Opfer der Nationalsozialisten waren einbezogen. Harry Naujoks wurde von den tschechischen Mithäftlingen bei seinem Pragbesuch regelrecht gefeiert. Die Verständigung unter den Opfern wurde schon öfter als eine der Wurzeln gemeinsamer europäischer Identität angesprochen. Jetzt, nach 70 Jahren, ist es an der Zeit, die Erinnerung zu pflegen und noch mehr herauszuarbeiten.

Die Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück haben am Wochenende eine Ausstellung an beiden Orten eröffnet, die sich mit den ersten ausländischen Häftlingen in beiden Lagern befassen – mit Frauen und Männern, die bald eine transnationale Gemeinschaft bildeten und sie bis heute, auch beim Totengedenken hervorheben.

Die Ausstellung heißt Vergessene Vernichtung, arbeitet jedoch natürlich gegen das Vergessen. In Sachsenhausen wurde zudem ein Symposium abgehalten, an dem Historiker aus mehreren Ländern ein Bild der damaligen Zeit herauszuarbeiten versuchten. Und es ist dabei klar geworden: Opfer der totalitären Willkür konnten besser über Gemeinsamkeiten nachdenken als verrückte Diktatoren. Die damaligen Opfer verdienen nicht nur eine Erinnerung. Nein, sie sollten auch in unser Nachdenken über die europäische Identität, unsere Integration, und zwar auf der Basis der Wertegemeinschaft, eingehen.

Jaroslav Sonka von der Europäischen Akademie Berlin