Siegfried Forster
Artikel vom 08.05.2008 Letzte Aktualisierung am 05.06.2008 09:16 TU
Das Führungstrio der Studentenrevolte am 11.5.1968 in Paris: Alain Geismar, Jacques Sauvageot, Daniel Cohn-Bendit.
Foto: AFP
Den Namen Alain Geismar kennt außerhalb Frankreichs kaum jemand. Doch im Pariser Mai 68 war er allgegenwärtig. Anfang Mai hatte er Daniel Cohn-Bendit Unterschlupf in seinem Gewerkschaftsbüro angeboten, als der rote Dany erstmals von der Ausweisung bedroht gewesen war. Für Geismar spuckte Daniel Cohn-Bendit damals zwar etwas zu große Töne, aber als Cohn-Bendit am 6. Mai dann mit sieben weiteren Studenten vor dem Disziplinargericht stand, war es Geismar, der Solidaritäts-Kundgebungen organisierte. Er rief ganz allein mit seiner Hochschul-Gewerkschaft SNESUP zum Streik auf und am 8. Mai war er es, der einen Marsch auf die Sorbonne-Universität ankündigte und 20.000 Studenten mobilisierte. Geismar stand oft im Rampenlicht, verhandelte mit heiserer Stimme mit dem Pariser Uni-Rektor, zur Ikone stieg er nicht auf – obwohl er in der Nacht der Barrikaden die Forderungen der Demonstranten vortrug:
„Freilassung der Verhafteten, Wiedereröffnung der Sorbonne und eine Demokratisierung der Universität.“
Als Daniel Cohn-Bendit dann tatsächlich des Landes verwiesen wurde, war es wieder Geismar, der als erster reagierte:
« Wir sind der Meinung, dass zu jenem Zeitpunkt, an dem der Premierminister an der Tribüne der Nationalversammlung zu Verhandlungen aufruft, in dem Moment, an dem die Regierung ein Amnestie-Gesetz vorbereitet, in dem Moment, wo das Parlament eine Debatte über die jüngsten Ereignisse plant, in diesem Moment ist diese repressive Haltung der Regierung gegenüber einem der Führer der Studentenbewegung besonders aufschlussreich. Unseres Erachtens handelt es sich um einen schwerwiegenden politischen Fehler. Die Regierung hofft vielleicht, damit die Bewegung zu spalten: auf der einen Seite die Studenten und Universitätsangestellten, auf der anderen Seite die Arbeiter. Aber wir denken, das sie genau das Gegenteil hervorrufen.“
Alain Geismar ist Sohn einer aus dem Elsass stammenden jüdischen Familie. Er kam am 17. Juli 1939 in Paris auf die Welt, war 1968 also bereits fast 29 Jahre alt. Er hatte Physik studiert und galt bereits als ein alter Hase des Widerstands. Anfang der 60er Jahre hatte er sich gegen den Algerienkrieg engagiert, im Mai 68 dann als Führer der französischen Hochschul-Gewerkschaft SNESUP. Der Unterschied der Protestkulturen von 1963 und 1968 war für ihn verblüffend: bei den Demos gegen den Algerienkrieg suchten die Studenten möglichst schnell das Weite, sobald die Bereitschafts-Polizei anrückte, im Mai 68 trotzten plötzlich brav in Anzüge gekleidete Studenten mit Aktentaschen in der Hand der Staatsgewalt. Für Alain Geismar ist Mai 68 kein plötzlicher Ausbruch, sondern Ausdruck einer langen Entwicklung "Mai 68, das war kein Donnerschlag in einem wolkenlosen Himmel. Das war etwas, was von weit her kam und sich auch später fortsetzte. Schauen wir uns das Jahrzehnt 1963-73 an. 1963 ist der Algerienkrieg beendet. 1963 ist der große Streik der Minenarbeiter. 1963 war auch das große Konzert „Salut les copains“ an der Pariser Place de la Nation, als sich 100.000 Jugendliche unterschiedlichster Herkunft versammelten und die ganze Nacht Musik hörten… es passierte eine ganze Reihe an Dingen, vor allem hörte die Sozialbewegung ab 1963 nicht mehr auf… bis 1968 gab es ständig soziale Proteste. Beispielsweise im Winter 1967/68 kam es zu Arbeiter-Aufständen in Le Mans und Caen. Damals wurde der Slogan gegen die Bereitschaftspolizei „CRS/SS“ erfunden. Mai 68 fand in diesem Kontext statt.“
Bei den sogenannten Grenelle-Verhandlungen im Anschluss an die Barrikaden-Politik, Fabrik-Besetzungen und Massenstreiks war Geismar eine der Schlüsselfiguren der Verhandlungen, die eine bis heute einmalige Erhöhung der Sozialleistungen mit sich brachten. Auch anschließend begnügte sich Geismar nicht mit der Rolle eines Schreibtisch-Gewerkschafters. Er gehörte zu den führenden Köpfen der 1970 verbotenen maoistischen Splittergruppe „La Gauche Prolétarienne“ - „Die Proletarische Linke“. Eine Mitgliedschaft, die ihm 18 Monate Haft einbrachte. Nach dem Gefängnis suchte er nicht den bewaffneten Kampf, sondern verfolgte eine Karriere als Hochschul-Lehrer. Ausschlaggebend dafür, dass er den revolutionären Kampf einstellte, war der symbolträchtige Arbeiter-Streik in der Uhrenfabrik Lipp im Jahr 1973.
„Die entlassenen Lipp-Mitarbeiter warfen die Produktion wieder an, verkauften die beschlagnahmten Uhren in Eigenregie und das alles mit dem Rückhalt der Bevölkerung. Es war kein einziger Maoist unter ihnen. Wir Maoisten waren da vollkommen unnütz, ja es bestand sogar die Gefahr, dass wir für die Bewegung eine Gefahr darstellen konnten, denn mit uns hätte das Ganze zu einer Eskalation und einem Blutbad führen können. Deshalb habe ich damals mit meinen Freunden beschlossen, unsere revolutionären Aktivitäten einzustellen.“
Sein pädagogischer Anspruch als Hochschullehrer blieb bei ihm jedoch immer politisch gefärbt – wenngleich er der Radikalität seiner Jugendjahre vollkommen den Rücken kehrte. In den 90er Jahren arbeitete er im Kabinett des damaligen sozialistischen Erziehungsministers und späteren Premierministers Lionel Jospin. Heute ist er Berater des sozialistischen Hoffnungsträgers und aktuellen Pariser Bürgermeisters Bertrand Delanoë. Daneben lehrt er als Professor am Pariser Institut für Politische Wissenschaft Science Po. Was im Mai 2008 von Mai 68 bleibt? Für Geismar haben die heutigen Demonstrationen der Schüler, Studenten, Arbeiter oder illegalen Einwanderer nichts mit 68 zu tun.
„Wissen Sie, wir sind heute weiter von 1968 entfernt, als 1968 von 1936 entfernt gewesen ist. Wenn man den Demonstranten von 1968 gesagt hätte, dass sie das gleiche machen sollen, wie die Demonstranten 1936, dann hätten sie einen ausgelacht.“
Fokus Frankreich
Letzte Aktualisierung am 15.01.2010 16:16 TU
Politik
2010.01.18 10:51 TU
Gesellschaft